Warum Hochdeutsch für Schweizer:innen aus der Deutschschweiz nicht die erste Fremdsprache ist

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Immer wieder hört man in der Deutschschweiz die Behauptung, dass Hochdeutsch die erste Fremdsprache sei. Diese Aussage ist jedoch linguistisch nicht korrekt, da Schweizerdeutsch und Hochdeutsch nicht zwei verschiedene Sprachen, sondern Varietäten des Deutschen sind.

Dialekt und Standardsprache
Schweizerdeutsch ist eine alemannische Mundart, die sich vom Standarddeutschen in Wortschatz, Grammatik und Aussprache unterscheidet. Dennoch gehören beide zur deutschen Sprache. Das Alemannische ist dem Mittelhochdeutschen, also dem Deutschen, das im Hochmittelalter am Oberrhein gesprochen und geschrieben wurde, sehr ähnlich.
So haben wir noch heute im Alemannischen die sogenannten Diphthonge wie in dem Lehrsatz „liebe guote brüeder“. Hingegen fand bereits seit dem 11./12. Jahrhundert in Westmitteldeutschland die sogenannte neuhochdeutsche Monophthongierung statt, also der spontane Lautwandel, bei dem die Diphthonge ie, uo, üe zu Langvokalen [i:], [u:] und [ü:] wurden. Gerade Deutschlernenden in der Schweiz fällt es immer wieder sehr schwer, diesen Unterschied zu erfassen. So werden die heutigen Monophthonge ie, uo, üe aufgrund des Kontakts mit dem Schweizerdeutschen von Deutschlernenden immer wieder als Diphthonge und nicht als Monophthonge ausgesprochen.
Gleichzeitig kam es im Mittelalter zu einer Diphthongierung von Monophthongen: Bei der neuhochdeutschen Diphthongierung wurden die Monophthonge î, û und iu zu den Diphthongen ei, au und eu/äu. Dieser spontane Lautwandel, der sich vom Süden her ausbreitete, begann bereits zu frühmittelhochdeutscher Zeit (ca. 11. Jhd.) und war weitgehend im ca. 16. Jhd. abgeschlossen: mhd. mîn niuwes hûs > nhd. mein neues Haus. Auch die Diphthonge bereiten vielen Deutschlernenden, die in Kontakt mit dem Schweizerdeutschen kommen, Probleme. Es ist daher von essentieller Bedeutung, dass Deutschlehrer:innen in der Schweiz die Monophthongierung und die Diphthongierung bekannt sind und sie dementsprechend auf diese spezifischen Besonderheiten eingehen können.
Hochdeutsch ist demzufolge keine Fremdsprache, sondern die standardisierte Schriftsprache, die auch von Schweizer Kindern bereits früh in der Schule gelernt wird. So wie in der Schweiz Dialekt gesprochen wird, so wird auch in Deutschland oder Österreich in vielen Regionen ein Dialekt gesprochen, jedoch wird hier klar differenziert zwischen der Verwendung in einer formellen oder einer informellen Umgebung. In Deutschland gelten Dialekte auch als „Soziolekte“, d.h. es wird eine Verbindung zur Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht hergestellt.
Auch in Deutschland sprechen also sehr viele Menschen Dialekt, das Hochdeutsche selbst ist letztlich auch ein Dialekt, der jedoch zur Standardsprache auserkoren wurde. Das reinste Hochdeutsch wird Linguisten zufolge in Hannover und der umliegenden Region gesprochen.

Hochdeutsch als „erste Fremdsprache“ von Schweizern aus der Deutschweiz zu bezeichnen, ist aus linguistischer Sicht falsch. Vielmehr handelt es sich um die Standardvarietät der deutschen Sprache, die in der Schweiz als Schriftsprache fungiert und früh erlernt wird. Die Behauptung, es sei eine Fremdsprache, verkennt die enge sprachliche Verwandtschaft zwischen dem Schweizerdeutschen und dem Hochdeutschen und dient vielmehr dazu, Fehler in der Verwendung des Hochdeutschen zu entschuldigen. Wer Hochdeutsch als „erste Fremdsprache“ von Schweizern aus der Deutschweiz bezeichnet, verkennt zudem die Tatsache, dass Millionen von Deutschen und Österreichern sich in der gleichen Situation befinden, jedoch bewusster die Unterscheidung zwischen Hochdeutsch und Dialekt wahrnehmen und beide auch bewusster verwenden.

In unseren Workshops und Kursen zeigen wir den Teilnehmer:innen die Besonderheiten des gesprochenen und geschriebenen Hochdeutschen im Unterschied zum Schweizerdeutschen sowie der Schriftsprache auf. Wir gehen auf Helvetismen ein und auf regionale Varianten des Hochdeutschen, die gemäss Duden zulässig sind und durchaus gezielt als Stilmittel eingesetzt werden können.

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