Der Ethnologe Arnold van Gennep entwickelte das Konzept der „rites de passage“ (Übergangsriten), das beschreibt, wie Menschen durch bestimmte Rituale von einem sozialen Status oder Lebensabschnitt in einen anderen übertreten. Diese Übergangsriten sind in drei Phasen gegliedert:
- Trennungsphase (Séparation) – Die Person wird von ihrem bisherigen Status gelöst.
- Schwellenphase (Liminalität) – Die Person befindet sich in einem Zwischenzustand, in dem sie noch nicht in den neuen Status integriert ist.
- Wiedereingliederung (Inkorporation) – Die Person wird in die Gesellschaft mit dem neuen Status aufgenommen.
Diese Struktur lässt sich auch auf die Entwicklung und Nutzung von Sprache übertragen. Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern ein kulturelles System, das sich über Zeit und in bestimmten sozialen Kontexten verändert.
1. Sprachliche Übergangsriten in der individuellen Sprachentwicklung
Die Entwicklung von Sprache bei einem Individuum kann als eine Art Übergangsprozess verstanden werden:
- Trennung: Ein Kleinkind verlässt die vorsprachliche Phase, in der es nur Laute produziert.
- Schwellenphase: Das Kind beginnt, einzelne Wörter und später einfache Sätze zu verwenden, ist aber noch nicht voll sprachkompetent.
- Wiedereingliederung: Das Kind beherrscht schließlich die Sprache fließend und wird als kompetenter Sprecher anerkannt.
Diese Phasen gelten auch für den Erwerb einer Zweitsprache, insbesondere wenn Menschen durch Migration oder berufliche Anforderungen gezwungen sind, eine neue Sprache zu erlernen. Sie durchlaufen eine Phase der Unsicherheit (Liminalität), bevor sie sich mit der neuen Sprache und ihrer Kultur vollständig identifizieren.
2. Sprachwandel als kollektiver Übergangsprozess
Auch die Sprache als Ganzes durchläuft „rites de passage“, wenn sie sich über die Zeit verändert:
- Trennung: Alte Sprachformen oder Wörter geraten außer Gebrauch.
- Schwellenphase: Neue Begriffe und grammatikalische Strukturen werden zunächst zögerlich verwendet.
- Wiedereingliederung: Wenn eine neue Form anerkannt ist, wird sie Teil der offiziellen Sprache.
Beispiele: - Das Wort „Fräulein“ verschwand im Deutschen nach gesellschaftlichem Wandel, zunächst als umstrittene Form (Schwellenphase), bevor es schließlich als veraltet galt (Inkorporation neuer Formen wie „Frau“ für alle erwachsenen Frauen).
- Gendergerechte Sprache: Die Einführung von Begriffen wie „Lehrer*innen“ oder „Studierende“ durchläuft gerade eine Schwellenphase, in der noch Unsicherheit über die vollständige Akzeptanz besteht.
3. Sprachliche Riten in sozialen Gruppen
Innerhalb sozialer Gruppen durchläuft Sprache Übergangsprozesse, die den Status von Individuen beeinflussen können. Beispiele:
- Fachsprache und Berufssprache:
- Medizinstudenten oder Juristen durchlaufen eine sprachliche Initiation, indem sie die Fachterminologie lernen.
- Erst nach der vollständigen Beherrschung dieser Sprache werden sie als „vollwertige“ Mitglieder ihrer Berufsgruppe anerkannt.
- Jugendsprache:
- Jugendliche nutzen oft eine eigene Sprache, um sich von Erwachsenen abzugrenzen (Trennungsphase).
- Im Übergang ins Erwachsenenleben übernehmen sie zunehmend die Standardsprache (Integration).
- Einbürgerung und Sprache:
- Migranten müssen oft Sprachtests bestehen, bevor sie als Bürger eines Landes anerkannt werden.
- Die Sprache dient hier als symbolischer Ritus, um Zugehörigkeit zu demonstrieren.
4. Sprachrituale und symbolische Bedeutung
In vielen Kulturen gibt es auch explizite Sprachrituale, die als Übergangsriten fungieren:
- Religiöse Riten:
- Taufe, Konfirmation oder Bar Mizwa beinhalten oft eine sprachliche Komponente (z. B. das Sprechen eines Gebets oder Glaubensbekenntnisses).
- Politische Rituale:
- Die Ablegung eines Amtseids markiert den Übergang in eine offizielle Position.
- Namensgebung und Identität:
- In manchen Kulturen erhält eine Person bei bestimmten Übergängen (z. B. Hochzeit oder Initiation) einen neuen Namen, der eine neue Identität signalisiert.
Die „rites de passage“ lassen sich auf Sprache in mehrfacher Hinsicht übertragen: individuelle Sprachentwicklung, Sprachwandel, soziale Gruppenzugehörigkeit und sprachliche Rituale. Sprache ist nicht statisch, sondern ein dynamisches System, das durch Übergänge und symbolische Veränderungen geprägt wird. Wer diese Prozesse erkennt, kann besser verstehen, wie Sprache Identität, Gesellschaft und Kultur formt.