Ist das Perfekt dem Präteritum sein Tod?

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In der deutschen Sprache scheint das Präteritum zunehmend an Bedeutung zu verlieren, insbesondere in der mündlichen Kommunikation. Immer häufiger wird es durch das Perfekt ersetzt, in Anlehnung an Bastian Sicks Buch „Ist der Dativ dem Genitiv sein Tod?“ könnte man also fragen: „Ist das Perfekt dem Präteritum sein Tod?“ – wobei mit dieser Frage zusätzlich auch noch die Ablösung des Genitivs durch den Dativ thematisiert wäre – zwei zum Preis von eins. Wird nun aber tatsächlich nicht nur der Genitiv, sondern auch das Präteritum aus dem Deutschen verdrängt? Um es vorwegzunehmen: Die Antwort ist relativ eindeutig und lautet: „Ja.“

1. Die ursprüngliche Funktion von Präteritum und Perfekt
Traditionell haben das Präteritum (z. B. „ich ging“) und das Perfekt (z. B. „ich bin gegangen“) unterschiedliche Funktionen:
Präteritum: Wird vor allem in schriftlichen Texten für vergangene Handlungen genutzt, z. B. in Berichten, Erzählungen und Romanen.
Perfekt: Wird in der Alltagssprache verwendet, um Ereignisse in der Vergangenheit zu beschreiben, die einen Bezug zur Gegenwart haben.

2. Sprachwandel: Das Perfekt verdrängt das Präteritum
In den letzten Jahrzehnten ist zu beobachten, dass das Perfekt zunehmend das Präteritum ersetzt – insbesondere in den süddeutschen und schweizerdeutschen Sprachregionen. Sätze wie „Gestern ging ich einkaufen“ wirken heute oft steif und unnatürlich, während „Gestern bin ich einkaufen gegangen“ als normaler Sprachgebrauch gilt.
Dieser Wandel betrifft vor allem die gesprochene Sprache. Im Norddeutschen ist das Präteritum in der Alltagssprache zwar noch verbreitet, doch auch dort gewinnt das Perfekt zunehmend an Raum.

3. Warum verdrängt das Perfekt das Präteritum?
Einfluss von Dialekten: In süddeutschen und schweizerdeutschen Dialekten gibt es kein Präteritum. Der Dialektgebrauch beeinflusst somit auch die Hochsprache: „I ha e Chueche bache.“ – Ich habe einen Kuchen gebacken. „I bachte e Chueche“ gibt es schlichtweg nicht.

Einfachere Struktur: Das Perfekt wird mit Hilfsverben („haben“ oder „sein“) gebildet, die gewissermassen schon mal einen Ankerplatz darstellen, auf den man sich retten kann, bevor man weiterspricht. Denn bevor das konjugierte Vollverb seinen Auftritt hat, sind erst mal innerhalb der Satzklammer, die das Hilfsverb und das Vollverb bilden, noch die ganzen TEKAMOLO-Ergänzungen an der Reihe (Temporal, Kausal, Modal, Lokal), was gewissermassen Zeit zum Nachdenken schafft, wenn’s mal mit der richtigen Perfekt-Form nicht sofort klappen sollte. Die Konjugation der Hilfsverben hingegen ist allgemein bekannt und erfolgt automatisiert. „Ich habe gestern abend, weil’s so schön war, ganz allein in meiner Wohnung einen Kuchen gebacken.“

Lebendiger Sprachgebrauch: Das Perfekt in der gesprochenen Sprache wirkt direkter und lebendiger, weniger gestelzt. „Ich buk einen Kuchen“ bzw. „Ich backte einen Kuchen“ (bei „backen“ sind die schwache wie auch die starke Konjugation möglich) hört sich künstlicher an als „Ich habe einen Kuchen gebacken“, noch extremer in der 2. Person Singular: „Du bukst einen Kuchen“ bzw. „Du backtest einen Kuchen“ verso „Du hast einen Kuchen gebacken“).

4. Ausnahme: Schriftliche Sprache und bestimmte Verben
In der schriftlichen Sprache, insbesondere in der Literatur, in den Nachrichten, aber auch in der Unternehmenskommunikation, bleibt das Präteritum weiterhin wichtig. Außerdem gibt es einige Verben, die fast ausschließlich im Präteritum verwendet werden, so die Hilfsverben „sein“ (ich war) und „haben“ (ich hatte) und die Modalverben „können“ (ich konnte), „sollen (ich sollte), „dürfen“ (ich durfte), „müssen“ (ich musste). Hier wirkt das Perfekt oft befremdlich.

Beispiele:
„Es war schön.“ ist kürzer als „Es ist schön gewesen.“
„Ich hatte keine Zeit.“ ist kürzer als „Ich habe keine Zeit gehabt.“
„Ich musste auf’s WC.“ statt „Ich habe auf’s WC gemusst.“
„Ich konnte es.“ statt „Ich habe es gekonnt.“

Der Sprachwandel zugunsten des Perfekts ist ein typisches Beispiel für die Dynamik lebendiger Sprachen. Auch wenn das Präteritum in der mündlichen Kommunikation zurückgedrängt wird, bleibt es in der Schriftsprache und in bestimmten Kontexten jedoch weiterhin unverzichtbar. Das Perfekt mag dem Präteritum in der gesprochenen Sprache den Rang abgelaufen haben, doch als Teil unseres sprachlichen Erbes wird das Präteritum seinen Platz behalten – zumindest im geschriebenen Wort. Wer in seinen Texten eine differenzierte Sprache verwenden will, nutzt daher nach wie vor das Präteritum – und natürlich auch den Genitiv.

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